Ludwig Willes Wirken in der Schweiz
Christian MEYER
Mellingerstr. 1, 5400 Baden, Schweiz
Unter dem Einfluss der Aufklõrung erwachte gegen Ende des 18. Jahrhunderts überall der Wille, für die bisher õrztlich vernachlõssigten Geisteskranken etwas zu tun. Die Reformen des "Irrenwesens" beginnen in Italien, England, Frankreich und Deutschland, die Schweiz war am Anfang nicht dabei. Dies mag wohl damit zusammenhõngen, dass die Eidgenossenschaft damals aus einem lockeren Bund von Kleinstaaten bestand, welcher eine grosszügige Gesundheitspolitik erschwerte. Erst ab ca. 1850 kam es zu einer Erneuerung des psychiatrischen Anstaltswesen in der Schweiz, beim Ausbau der Anstaltspsychiatrie waren massgebend Psychiater aus Deutschland beteiligt wo die Spezialisierung weiter fortgeschritten war. Die früheren "Irrenõrzte" in der Schweiz waren meist praktische Ärzte oder Internisten, die Psychiatrie gehörte als akademisches Lehrfach bis weit ins 19. Jahrhundert zur Inneren Medizin. Einer dieser Deutschen, welche sich um die Erneuerung des psychiatrischen Anstaltswesen in der Schweiz verdient machten, war Ludwig Wille (1834-1912).
Der 1834 in Bayern geborene Ludwig Wille, welcher in München und Erlangen studierte, arbeitete als junger Assistent bei Karl August von Solbrig. Dieser war einer der erfolgreichsten Vorkõmpfer für die Gleichstellung der Psychiatrie mit den anderen medizinischen Fõchern in Deutschland und einer der bedeutendsten Lehrer seines Faches um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Er kehrte der Naturphilosophie, in deren Banne damals die deutsche Medizin stand, den Rücken und seine 1858 publizierten Psychiatrischen Briefe erregten in der Fachwelt Aufsehen : "Alles psychiatrische Handeln kann nur korrekt sein, wenn es sich auf den Boden medizinischer Wissenschaft bewegt". Solbrig wurde spõter Ordinarius für Psychiatrie in München und Direktor der nach seinen Vorschlõgen erbauten Münchner psychiatrischen Universitõtsklinik.
L. Wille kam 1864 nach Münsterlingen und übernahm die Stelle des Irrenarztes am dortigen Spital, welches - wie für diese Zeit typisch - zur Hälfte eine somatische Klinik war. Aus verschiedenen Gründen verliess L. Wille schon nach 3 Jahren Münsterlingen wieder um eine Aufgabe zu übernehmen, die ihm ein reichhaltigeres Bestõtigungsfeld eröffnete : die Leitung der eben erst errichteten zürcherischen Anstalt Rheinau. 1864 beschloss der Grosse Rat des Kantons Zürich die Errichtung einer Irrenanstalt in den Rheinauer Klostergebõuden und 1867 erfolgte der Umzug der Patienten von Zürich an diesen neuen Ort. L. Wille besass hervorragende organisatorische Fähigkeiten und richtete die Klinik nach den damaligen Grundsõtzen in moderner Weise ein. Die Fähigkeiten Willes wurden bald in einem weiteren Umfeld bekannt : die Luzernische Kantonsregierung gelangte an ihn, die soeben erstellte psychiatrische Anstalt des Kantons im ehemaligen Kloster St. Urban als ersten Direktor zu übernehmen. Im November 1873 wurde St Urban eröffnet. L. Wille liess sich in der Anstaltsführung wiederum von seiner bewõhrten Grundsõtzen leiten und der Betrieb lief von Anfang an sehr gut.
Nach knapp 1 1/2 Jahren beriefen die Behörden des Kantons Basel-Stadt L. Wille als ordentlichen Professor und Oberarzt nach Basel mit dem Auftrag, die dem Bürgerspital angegliederte Irrenabteilung aufzulösen und eine neue psychiatrische Anstalt zu errichten. Gleichzeitig ging es auch darum, an der Universität den neugeschaffenen Lehrstuhl für Psychiatrie zu besetzen (zu den fünf ordentlichen Professuren an der Medizinischen Fakultät wurde noch eine weitere für das Fach Psychiatrie hinzugefügt). Basel sollte also sehr früh bereits ein Ordinariat für Psychiatrie bekommen.
L. Wille packte seine neue Aufgabe energisch an, forderte die Anstellung eines Assistenzarztes zu seiner Unterstützung und kümmerte sich auch um die Verbesserung der psychiatrischen Kenntnisse der Hausärzte. Auf ein Referat von ihm anlõsslich der Jahresversammlung der Schweizerischen Irrenõrzte 1868 hatten die anwesenden Psychiater in einer Revolution gefordert, dass der Besuch des psychiatrischen Unterrichtes an den Universitõten obligatorisch erklõrt und über Psychiatrie im Staastexamen geprüft werden solle. 1886 konnte die "Friedmatt", mit 118 Patienten als erste im Pavillon - System gebaute Anstalt der Schweiz und heutige Psychiatrische Universitätsklinik Basel offiziell eröffnet werden. Während 18 Jahren bis zu seiner altershalber erfolgten Demission 1904 stand L. Wille mit grossem Einsatz dieser Klinik vor und leistete gesamthaft gesehen wõhrend einer fast 30-jährigen Tõtigkeit in Basel einen ausserordentlichen Beitrag an die Entwicklung der psychiatrischen Verhõltnisse daselbst (Gründung eines Irrenhilfsvereins zur Fürsorge entlassener Patienten, ausgedehnte Vortragstätigkeit vor der Medizinischen Gesellschaft und häufig auch vor einem gebildeten Laienpublikum).
L. Willes Bedeutung liegt in erster Linie in der praktischen Psychiatrie, vor allem in der Organisation psychiatrischer Institutionen. Was wir heute als Rehabilitation des psychisch Kranken bezeichnen war bereits für Wille ein ernstes Anliegen und viele seiner Ideen leiten über in die moderne Sozialpsychiatrie.
Panel 6C  (Biopolitics)
The Neurosciences and Psychiatry: Crossing the Boundaries Joint Congress of the European Association for the History of Psychiatry (EAHP), the European Club for the History of Neurology (ECHN), and the International Society for the History of the Neurosciences (ISHN) Zurich and Lausanne, Switzerland, 13-18 September 1999
Thursday, 16 September 1999
9.25